Die schönste Möglichkeit nach Havelberg zu kommen, ist aus Richtung Westen. Genauso, wie es schon die sächsischen Eroberer getan haben. Nur heute bekommt man beim Überqueren der Elbe keine nassen Füße, aber es geht noch recht ursprünglich und beschaulich mit der Fähre von einem Ufer zum anderen.
Während der circa 5-minütigen Fahrt gewinnt man einen guten Eindruck vom Biosphärenreservat „Flusslandschaft Elbe“. Viele vom Aussterben bedrohte Tierarten haben sich in dieser weitestgehend ursprünglichen Flusslandschaft angesiedelt.
Wenn man am östlichen Ufer angekommen ist, sind es nur noch ein paar Kilometer bis in die Stadt.
Als im September 929 die Sachsen bei Lenzen einen knappen Sieg gegen die Slawen errangen, behaupteten sie ihre Vormachtstellung östlich der Elbe. Um diesen Sieg noch auszubauen, gewann die Gegend um die jetzige Kleinstadt Havelberg besondere Bedeutung und man errichtete hier einen Brückenkopf und eine Burg. Frühere Annahmen, dass sich die Burg auf dem Domberg befand, sind etwas ins Wanken geraten, da Keramikfunde aus dieser Zeit eher dafürsprechen, dass die Burg auf der jetzigen Stadtinsel zu suchen war. Dieser Standort erschien Otto I. so bedeutend, dass er die Hälfte seiner Burg zur Verfügung stellte um einen Bischofssitz zu gründen. Nur kurz gehörte die Diözese dem Erzbistum Mainz an, denn mit der Gründung des Erzbistums Magdeburg wurde es diesem unterstellt.
Otto entsandte den ersten Bischof Dudo nach Havelberg, dass dieser eine Kirche bauen sollte.
Wir würden die Gegend um Havelberg aus heutiger Sicht als Wildnis bezeichnen. Hinzu kommt noch, dass die dort ansässigen Slawen nicht wirklich erbaut waren über die Anwesenheit der christlichen Sachsen. Nicht nur dass diese eine neue Religion mitgebracht haben, sie machten die Slawen auch tributpflichtig.
Die erste Kirche wurde auf dem heutigen Domberg errichtet. Wie diese Kirche aussah weiß man nicht. Aber die Fundamente der Ost- und Westteile des heutigen Domes weisen Merkmale auf, die eher auf einen ottonischen Bau hinweisen. Was bedeuten würde, dass im Jahr 983 zumindest eine Baustelle zum jetzigen Dom existiert haben könnte. In diesem und für die weiteren einhundertsiebzig Jahre war allerdings Schluss mit dem Bau. Vielleicht hatten die Sachsen den Bogen überspannt, jedenfalls wurde Havelberg und das zeitgleich entstandene Bistum in Brandenburg überfallen und von den Slawen zurückerobert. Thietmar von Merseburg berichtete, dass die gesamte Besatzung von Havelberg ermordet und der Bischofssitz zerstört wurde. Die Elbe war nun wieder die Grenze zwischen Heiligen Römischen Reich und den Slawen. Aber die Sachsen sind stur und in weiser Voraussicht gaben sie das Bistum Havelberg auch während der slawischen Besetzung nicht auf. Auch ohne dort ansässig zu sein, gab es zu jeder Zeit einen Bischof. Sozusagen ein Schäfer ohne Herde.
Einer dieser Bischöfe von Havelberg war Anselm, der am 11.06.1129 von Norbert von Xanten zum Bischof geweiht wurde. Zwanzig Jahre später nahm Anselm am Kreuzzug gegen die Wenden teil. Havelberg wurde zurückerobert und Anselm siedelte ein Prämonstratenser-Chorherrenkonvent in Havelberg an. Die Domherren kamen aus dem Mutterkloster Unserer Lieben Frauen in Magdeburg und aus dem Kloster Jerichow. Der Dombau begann.
Mit Lastkähnen wurden Grauwacke-Steine aus Steinbrüchen bei Gommern herangeschafft. Auf einem nur ein Meter tiefen Fundament entstand eine romanische Basilika mit einem Langhaus, zwei Seitenschiffen und zwei Querriegeln, die im Osten und Westen an das Langhaus anschlossen. An den östlichen Querriegel wurde eine halbrunde Apsis angebaut, die die gesamte Breite des Mittelschiffs einnahm. Der ursprüngliche Chorraum erstreckte sich über das Langhaus und die beiden Seitenschiffe. Insgesamt machte der Dom damals wohl einen kleineren und gedrungenen Eindruck, da sowohl die beiden Querriegel als auch das Mittelschiff bei weitem noch nicht so hoch waren wie heute.
Der Bau war von ständigen Unruhen zwischen Slawen und Sachsen begleitet. Anselm berichtete, dass ein Teil der Chorherren mit dem Bau, ein Teil mit dem Bewachen der Baustelle und ein anderer Teil der Chorherren mit Beten beschäftigt waren.
Zur romanischen Ausstattung gehörten wohl ein Triumphkreuz, ein Chorgestühl und Chorschranken. Hiervon ist nichts erhalten geblieben.
Der Westriegel war so hoch, wie es heute noch die hellere Grauwacke erkennen lässt. Wahrscheinlich schloss er mit einem Satteldach ab, wie es bei diesen Bauwerken üblich war. Die länglichen Öffnungen im Mauerwerk dienten der Belüftung und Belichtung der im Turm befindlichen Etagen. Die kleineren Öffnungen sind Gerüstlöcher. Dort wo sich heute das neoromanische Portal befindet, war damals eine kleine Tür, die zum Turmuntergeschoss, dem Narthex führte. Hier befand sich üblicherweise das Taufbecken, denn nur Christen durften die Kirche betreten. Der Raum schloss mit drei Rundbögen zum Kirchenraum hin an.
Die Etage über dem Narthex war über eine Treppe oder Leiter durch die sechs Meter hoch gelegene Tür zu erreichen. Vielleicht diente der Raum ursprünglich auch als Fluchtmöglichkeit bei Angriffen, was die so hoch angebrachte Tür erklären würde. Überliefert ist, dass sich hier eine Kapelle befand. Auch dieser Raum war über Arkaden zum Kirchenschiff hin geöffnet.
Die Kirchenschiffe waren flach gedeckt. Die Holzdecke lag ungefähr auf der Höhe der Kapitelle, auf denen jetzt die gotischen Gewölberippen aufsitzen. Die Fenster im Obergaden hat es in der heutigen Größe nicht gegeben.
Vielmehr muss man sich die Fenster des Domes, also im Obergaden und in den Seitenschiffen so vorstellen, wie das letzte noch erhaltene romanische Fenster über den Domeingang vom Ostflügel des Kreuzganges.
25 Jahre wirkte Anselm in Havelberg bis er Erzbischof in Ravenna wurde und Havelberg als ziemlich alter Mann verließ. Drei Jahre später stirbt er in Mailand und wird in Ravenna beigesetzt. Die Fertigstellung des Domes in Havelberg hat er nicht mehr erlebt.
Am 16.08.1170 wird der Dom in Anwesenheit des Erzbischofs Wichmann von Magdeburg und Albrecht den Bären geweiht. Zu diesem Ereignis betritt Albrecht der Bär übrigens das letzte Mal die Bühne der Geschichte. Drei Monate später verstirbt er vermutlich in Stendal.
Zur Weihe des Domes wird das Domkapitel reich mit Gütern versehen. So erhält es unter anderem die Einkünfte an den altmärkischen Dörfern Düsedau und Losse. Das Domkapitel zählt zu diesem Zeitpunkt circa 15 bis 30 Mitglieder.
Aber wo wohnten die Domherren zu dieser Zeit. Eine Klausur gab es noch nicht. Es waren wohl eher hölzerne Behelfsbehausungen. Aber der Bau des Ostflügels, nun aus Backstein, hatte schon begonnen. Es entstand ein Kapitelsaal, eine Sakristei, ein Parlatorium (Sprechraum) und ein weiterer Raum mit einer Heizung. Im Obergeschoss befand sich das Dormitorium, der Schlafsaal. Auch den Eingang des Klosters findet man im Ostflügel. Es ist der noch heute existierende tonnengewölbte Durchgang, der als Notausgang dient. Die Verbindung der Räume übernahm noch ein hölzerner Bau, sozusagen der Vorgänger des Kreuzganges.
Ein paar Jahre nach der Domweihe erhält Bischof Hubert die Erlaubnis zur Gründung einer Stadt am Bischofssitz. Auf der jetzigen Stadtinsel bestand zu dieser Zeit bereits eine ansehnliche Ortschaft, aber der Bischof hatte den Anspruch eine eigene Stadt auf dem Domberg zu gründen. Es ist aber nie eine Stadt geworden. Es blieb immer eine dörfliche Ansiedlung. Noch im Jahr 1748 gab es auf dem Domberg ein Brau- und Darrhaus, eine Bäckerei, ein Schlachter, diverse Handwerkerhäuser, selbstverständlich einen Domkrug, einen Wirtschaftshof mit einer Schäferei, ein Hospital und eine Domschule. Der Ort zählte so um die 300 Einwohner.
Auch das Bistum verkleinerte sich. Während es bei seiner Gründung im 10. Jahrhundert noch bis an die Ostsee reichte, lag seine nördliche Grenze nun an der Müritz. Im Osten endete es ungefähr auf der Höhe von Gransee, im Süden ging es bis Jerichow und im Westen war die nahegelegene Elbe die Grenze.
Bereits einige Jahre nach der Domweihe entschloss man sich den Westturm um ein Geschoss aufzustocken. Dieses Glockengeschoss mit drei Schallöffnungen wurde aus Backstein gebaut. Das Geschoss schloss mit einem Zinnenkranz ab. Dadurch muss der Turm einen recht wehrhaften Charakter getragen haben und ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis war wahrscheinlich auch der Grund für die Aufstockung.
Mit Beginn des 13. Jahrhunderts wird die Klausur um den Südflügel erweitert. Im Erdgeschoss entstehen das Sommer- und Winterrefektorium. Beide Räume besaßen eine flache Holzdecke. Das Winterrefektorium verfügte sogar über eine Heizung. Im Obergeschoss befanden sich Gästeräume und etwas später auch noch eine Bibliothek.
Mit der Entstehung des Südflügels baute man auch einen massiven Kreuzgang. Kreuzrippengewölbe und Spitzbögen waren der letzte Schrei in der Gotik.
Wie war so ein Chorherrenkonvent eigentlich aufgebaut. Es gab eine straffe Hierarchie. Der Bischof wurde durch einen Probst vertreten. Dem Kapitel selbst stand der Prior vor. Die Klosterwirtschaft leitete der Cellerar und der Kämmerer verwaltete die Finanzen. Ein Küster organisierte den Kirchenbetrieb. Der Konvent selbst war eine Gemeinschaft von Priestern, die nach der Augustinerregel lebten. Sie gelobten Keuschheit, Gehorsam und Armut. Aber mit den Jahren schlich sich eine gewisse Nachlässigkeit ein. Begonnen hatte alles mit der Lockerung der Konventsregeln. Während der Gottesdienste durften nun Pelze getragen werden. Darüber hinaus wurden Schuhe aus weichem Leder und wärmende Unterhemden im Schlafsaal erlaubt. Auch Fleisch stand nun auf dem Speiseplan. Eigentlich alles Dinge, die völlig normal erscheinen. Aber genau in der Armut, zu der sich die Chorherren verpflichteten, lebten die Bauern. Jede Lockerung der selbst auferlegten Verpflichtungen erhob die christliche Gemeinschaft über die arme und meistens abhängige Landbevölkerung.
Und so, wie das Armutsgelübde sich langsam aber sicher auflöste, verschönerten sich auch die Klausurgebäude. Im Sommerrefektorium wurde die Holzdecke durch ein Kreuzrippengewölbe ersetzt.
Im Jahr 1279 brannte der Dom nieder. Die gesamte Innenausstattung wurde ein Opfer der Flammen. Die Instandsetzung des Domes erfolgte noch ohne wesentliche Veränderungen am Bauwerk. Aber vielleicht sind hierbei die Pläne für eine gotische Umgestaltung gereift. Dreißig Jahre später begann man mit den größten Umbauten, die der Dom je erlebte.
Dem zuvor kam noch der Bau des Westflügels der Klausur. Hier entstand im Erdgeschoss ein gewölbter Saal dessen Zweck bisher nicht bekannt ist, und eine Küche. Das Obergeschoss wurde als Kornspeicher genutzt.
Der gotische Umbau erfolgte nach dem Muster der Klosterkirche Unserer Lieben Frauen in Magdeburg. Links ist ein Foto der Magdeburger Kirche. Die Gleichnisse sind unverkennbar, wenn auch die Farbgestaltung etwas anders ist.
Hervorstechend sind die vorgeblendeten Arkaden aus Backstein, die die Gewölberippen tragen. Für das Gewölbe wurde das Hauptschiff erhöht. Sowohl im Obergaden als auch in den Seitenschiffen wurden die kleinen romanischen Fenster durch große gotische Spitzbogenfenster ersetzt.
Die Gewölbe im Hauptschiff waren mit einem Rankwerk bemalt. Dies erkennt man noch an einer Gewölbekappe am Aufgang zur Orgel.
Auch die Außenwände der Ostteile wurden aufgestockt. Die halbrunde romanische Apsis wurde fünfseitig umgebaut und ebenfalls erhöht. Der gesamte Ostabschluss erhielt schlanke aufstrebende spitzbogige Fenster, die in die Unendlichkeit zu streben scheinen.
Nach der Erhöhung bekam der Ostabschluss noch je einen Ziergiebel auf der Nord- und Südseite und so wirkte das Gebäudeteil wie ein gewaltiges Querhaus.
Da beim Brand die gesamte Ausstattung verloren ging, erhielt der Dom eine komplett gotische Inneneinrichtung. Die drei Leuchter am hohen Chor sind Teile der ehemaligen gotischen Chorschranke. Der Altar erhielt einen hölzernen Aufsatz als Flügelaltar.
Während das schlichter gehaltene Chorgestühl bereits kurz nach dem Dombrand entstand, ließ man nun ein aufwändigeres Gestühl bauen. Sicherlich hatte dieses ebenfalls Klappstühle. Die Bequemlichkeit von einzelnen Polsterstühlen gönnte man sich erst in der jüngeren Vergangenheit.
Komplettiert wurde der Chorraum mit der wunderschönen Triumphkreuzgruppe. Während in der Romanik Jesus als Herrscher über die Welt mit einer Krone und Schuhen dargestellt wurde, zeigt sich Jesus in der Gotik leidend und schmerzerfüllt mit einer Dornenkrone und übereinander gestellten Füßen, die mit einem Nagel durchbohrt und am Kreuz befestigt sind. Auch die zu beiden Seiten dargestellten Maria und Johannes blicken leidend.
Die Fenster in Grisailleornamentik entstanden auch während der gotischen Umbauphase. Die Bezeichnung Gris kommt aus dem französischen und bedeutet grau. Abgesehen von den bunten Einfassungen sind die zumeist runden Elemente in grau gehalten.
Am 16.08.1330 wurde der Hohe Chor durch Bischof Dietrich I. geweiht. Die Umbauarbeiten am Dom waren aber noch längst nicht beendet. Geldnöte sorgten für viele Bauverzögerungen. Es sollten letztendlich noch weitere fünf Jahrzehnte vergehen bis der Dom vollständig im gotischen Licht erstrahlte.
Eine der letzten Arbeiten am Dom war der Anbau der Marienkapelle am südlichen Seitenschiff.
Bei der Gelegenheit wäre erwähnenswert, dass der Kreuzgang nicht umlaufend ist. Der Nordflügel des Kreuzganges wurde nie gebaut. So blickt man vom Kreuzgang aus direkt auf das südliche Seitenschiff mit der Marienkapelle und der im 16. Jahrhundert noch dazu gekommenen etwas kleineren Annenkapelle.
Während das Domkapitel mit der Modernisierung des Domes beschäftigt war, entwickelte sich die Stadt Havelberg zu einer blühenden Stadt. Längst hatten die Bürger im Rat das Sagen. Und die Teilnahme von Abgesandten zum Hansetag in Rostock lässt darauf schließen, dass Havelberg schon 1359 der Hanse angehörte. Das Erstarken der Bürgerschaft machte mit der Zeit den Domherren auch mächtig das Leben schwer. Die Stadt kämpfte um Rechte gegenüber dem seit Jahrhunderten über der Stadt trohnendem Domkapitel. So kam es zu Streitigkeiten über die Nutzung von Mühlen und Lehmkuhlen. Diese befanden sich selbstverständlich im Besitz des Domkapitels und die Stadt konnte diese gegen ein gewisses Entgelt nutzen. Aus welchem Grund es hier zu handfesten Rechtsstreitigkeiten kam, weiß ich nicht, ich könnte mir aber vorstellen, dass die Domherren am Reichtum der Hansestadt teilhaben wollten und die Nutzungsentgelte entsprechend anpassten. Und wie heute auch, endet ein solcher Rechtsstreit meist mit einem Vergleich. Überliefert ist hier ein Streit um die Nutzung einer Mühle im Jahr 1373. Im Ergebnis der Auseinandersetzung wurde das Eigentum des Domkapitels an der Mühle bestätigt, aber die Stadt brauchte kein Nutzungsentgelt mehr zu bezahlen. Die Querelen zwischen den Domherren und der Stadt zogen sich tatsächlich bis ins 18. Jahrhundert. Rangeleien um Macht, Besitz und Geld. Manche Dinge ändern sich irgendwie nie.
Eine äußerst effektive Art im Mittelalter zu Geld zu kommen, war ein Wunder zu erzeugen und Pilger mit dem Versprechen auf Erlass von Höllenqualen anzulocken. Was in der heutigen Zeit der Tourismus ist, war damals die Pilgerei. Es geschah im Jahr 1383 als das ungefähr 20 Kilometer entfernte Dorf Wilsnack überfallen wurde und mit samt der Dorfkirche abbrannte. Im Schutt der Kirche fand der Priester die drei in der Altarplatte eingelassenen Hostien weitestgehend unversehrt vor. Jede der drei Hostien war mit einem Blutstropfen versehen. Das Wunder der Bluthostie war geboren. Ob nun der Priester die Hostien tatsächlich fand und einige Verschmutzungen als Blutstropfen deutete oder ob er dachte: „Hey, wir brauchen Geld um das Dorf und die Kirche wiederaufzubauen, lass uns ein Wunder machen“ wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben. Fakt ist, dass Wilsnack daraufhin ein Pilgerort wurde, der zu dieser Zeit durchaus einem Vergleich mit Santiago de Compostela standgehalten hätte. Tausende von Pilgern zog es nach Wilsnack. Es wurde eine große Kirche errichtet, die noch heute vom Geschäftssinn der Geistlichkeit und vom Glauben der Menschen an Wunder zeugt. Aber was hat das alles mit Havelberg zu tun? Was vielleicht für den Priester eine kleine Einnahmequelle gewesen wäre, war für den neuen Bischof von Havelberg, Johann III. Wöpelitz eine Möglichkeit auf den Zug der in Europa aufkommenden Pilgerfahrten aufzuspringen. Kurzerhand erwarb der geschäftstüchtige Bischof die Rechte am Dorf und der Kirche Wilsnack und förderte die Pilgerfahrten mittels klugem Marketings. Aufgrund der Lage Wilsnacks östlich der Elbe mussten die Pilger über Werben, von dort aus über die Elbe und über Havelberg. Der Verkauf der Pilgerzeichen in Havelberg und die Einnahmen aus Wilsnack wurde gemäß einer Verfügung des Bischofs so aufgeteilt, dass je ein Drittel an das Domkapitel, für Erweiterungen der Innenausstattung des Domes und an den Bau der Kirche in Wilsnack ging. So wurden die Fenster des Domes mit dem Christuszyklus finanziert. Die Fenster erzählen die Lebensgeschichte Jesus in bunten Bildern. Interessant ist, dass alle Figuren der Geschichte, die um die Jahre nach Beginn der Zeitrechnung spielt, in der Kleidung des 15. Jahrhunderts dargestellt sind. Die Fenster selbst sind zu einem Drittel noch original erhalten. Der Rest wurde im 19. Jahrhundert ergänzt.
Eine weitere Investition durch die Pilgereinnahmen war der Lettner. Hierfür wurde eigens eine Bauhütte gegründet. Am Lettner sind 14 Steinmetzzeichen zu finden, was darauf hinweist, dass mindestens so viele Steinmetze an seiner Erstehung mitwirkten. Die Steinmetze kamen aus Böhmen und Mitteldeutschland. Aber auch hier waren die Arbeiten nicht kontinuierlich durchgeführt worden. Das Vorkommen der gleichen Steinmetzzeichen in Wilsnack weist darauf hin, dass Steinmetze immer wieder zu Arbeiten an der dortigen Kirche abgezogen wurden.
Der Lettner hat die Aufgabe den Chorraum, der den Chorherren vorbehalten ist von der Laienkirche abzugrenzen. Er teilt faktisch die Kirche in zwei Bereiche. Daher steht vor dem Lettner ebenfalls ein Altar.
Wie wichtig eine Trennung der Chorherren von der Laienkirche war, zeigt ein überlieferter Bericht, aus dem hervorgeht, dass es immer wieder zu Zwischenfällen mit jungen Leuten kam, die mit Masken versehen in die Kirche stürmten, den Gottesdienst störten und für Streitereien sorgten. Klingt wie eine Nachricht aus einer Sendung im Regionalprogramm. Aber auch die Chorherren sorgten für Aufregung. So musste der Bischof das Mitbringen von Vögeln, Falken und Adlern auf den Schultern der Chorherren zum Gottesdienst verbieten.
Der Lettner hatte hier jedoch auch noch eine andere Aufgabe. Er diente als Bühne, wenn die Chorherren anlässlich des Osterfestes ein christliches Schauspiel aufführten.
In den Reliefs wiederholt sich die Geschichte Jesu, die auch schon Thema der Fenster ist.
Bischof Johann III. Wöpelitz erlebte die Fertigstellung des Lettners nicht mehr. Er stirbt 1401. Wird aber erst 1430 an der jetzigen Stelle im Chor in einem Hochgrab beigesetzt. Um diese Zeit entsteht auch der Doppelsitz. Wahrscheinlich war dies der Platz der Vorsänger bei den Stundengebeten.
Ungefähr in dieser Zeit entsteht auch das Sterngewölbe im Winterrefektorium.
Und wieder gibt es darüber zu berichten, dass die Chorherren gemaßregelt wurden. Dieses Mal handelte es sich um das Tragen von Waffen, gestreifter Kleidung, bunten Stiefeln und Kappen. Darüber hinaus sollten alle verdächtigen Frauen aus den Wohnräumen der Chorherren verschwinden. Und letzten Endes ging es noch um die Trunksucht innerhalb des Kapitels. So lieferten die Chorherren Kurfürst Joachim I. ausreichend Argumente beim Papst die Aufhebung des Stiftes durchzusetzen. Am 02. Juni 1506 wird ein weltliches Stift gegründet. Die Chorherren zogen aus und lebten in eigenen Wohnungen. Der Bischof selbst residierte bereits seit dem 13. Jahrhundert auf der Alten Bischofsburg in Wittstock.
Im Jahr 1508 wird die Annenkapelle neben der Marienkapelle angebaut.
Das an der Außenseite der Apsis angebrachte Sandsteinrelief wurde 1522 gestiftet. Der Stifter ist leider nicht bekannt.
1539 erreichte die Reformation die Mark Brandenburg. Kurfürst Joachim II. vertrat eine gemäßigte Politik und setzte die Reformation relativ langsam durch. In Wilsnack verbrannte der erste protestantische Pfarrer die Bluthostien und setzte damit einen Schlusspunkt unter die Wallfahrten. Die Geldquelle für das Domkapitel versiegte.
1561 setzte sich dann die evangelische Kirchenordnung durch. Die Heiligenbilder auf den Altären und die Triumphkreuzgruppe wurden entfernt. Der gotische Altaraufsatz wurde in die Kirche in Rossow bei Wittstock umgesetzt, wo er sich auch immer noch befindet. Der Domschatz wurde für 1000 Taler nach Lübeck verkauft. Der Verkaufserlös wurde den Städten in der Altmark geliehen. Von den Zinsen wurde der Domprediger, Kirchenangestellte und der Schulmeister bezahlt. Das katholische Bistum bestand noch bis 1598.
Mit den Protestanten gab es auch neue Aufnahmebedingen in das jetzt evangelische Domstift. So musste man deutsch und von ehelicher Geburt sein. Das Mindestalter war 21 Jahre und man musste mindestens ein dreijähriges Universitätsstudium nachweisen. Die Aufnahmegebühr betrug 100 Gulden und etwas später musste sogar die adlige Abstammung mit mindesten 8 Vorfahren nachgewiesen werden.
Der Taufstein wurde 1587 im Dom aufgestellt. Er ist das einzige aus dieser Zeit erhalten gebliebene Ausstattungsstück.
Im Dreißigjährigen Krieg wird der Dom stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Reparaturarbeiten wurden von einer aus dem Domschatz noch verbliebenen Mitra, deren Edelsteine nach und nach versetzt wurden, bezahlt. Leider wurden in diesem Krieg auch alle schriftlichen Unterlagen vernichtet.
Ende des 17. Jahrhunderts beginnt die barocke Umgestaltung des Domes. Sowohl die Kanzel als auch die Orgel werden erneuert. Der gesamte Dom wird innen weiß getüncht.
Der barocke Hochaltar wird vom Domherren Dietrich Heinrich von Estorff zur Erinnerung an seinen früh verstorbenen Sohn gestiftet.
Die Klausur, die viele Jahre zuvor den Chorherren als Wohnsitz diente, erhält nun eine ganz andere Bedeutung. In den Westflügel wird im Erdgeschoss ein Gefängnis eingebaut.
Johann Gottlieb Scholtze aus Neuruppin sanierte die 100 Jahre alte Orgel und ließ sie in neuem barocken Glanz erstrahlen. Der Dom muss prächtig ausgesehen haben.
1819 waren dann auch die Tage des evangelischen Domstiftes gezählt. Im April löst sich das Stift auf und der Dom wird eine Pfarrkirche. Zu diesem Zeitpunkt machte der Dom wohl einen recht jämmerlichen Eindruck. Einem Bericht zufolge sollen Spatzen durch das offene Dach in die Kirche gelangt sein und die Gottesdienste stört haben.
Aus dem Dombezirk wird ein königlich-preußisches Domänenamt, also nichts anderes als ein landwirtschaftlicher Betrieb. Die nicht benötigten Gebäude wurden verkauft, vermietet oder verpachtet.
Als 1836 dann auch noch ein Sturm über Havelberg hinwegfegte und weitere Beschädigungen am Dom hinzufügte, kam man um eine Sanierung nicht mehr herum. Der preußische Staat schickte Beamte, die sich ein Bild vom Ausmaß der Schäden machten und 1840 begannen die Sanierungsarbeiten. In deren Folge wurde das Gefängnis im Westflügel der Klausur verlegt und Viehställe beseitigt. Der geschaffene Platz diente dann der Preußischen Garnison als Waffenkammer.
Im Rahmen der Instandsetzungsarbeiten wurde ein großer Teil der barocken Ausstattung entfernt. Die Kirche wurde mit neuen Bänken bestückt, die Türen wurden erneuert und die Fenster repariert. Bei letzterem war man nicht wirklich zimperlich, denn fehlende Glasscheiben wurden ohne Rücksicht auf die bildliche Darstellung durch Scheiben mit einem geometrischen Muster ersetzt.
Darüber hinaus wurden die in den Boden des Domes eingelassenen Grüfte verfüllt und die Grabplatten entfernt. Der Dom erhielt einen vollständig neu gepflasterten Fußboden. Der preußische Konservator, Ferdinant von Quast ließ einige Jahre später die Grabplatten in der Kirche aufstellen. Der Siebenjährige Krieg verhinderte dann weitere Umbauten am Dom. Vielleicht war es ein Glück, denn den Worten des Herrn von Quast folgend, sollte der „hässliche“ barocke Altar ebenfalls verschwinden.
1876 übertrug der preußische Staat die Verwaltung der Domäne der Stadt Havelberg.
Es beginnen wieder Sanierungsarbeiten. Die im Barock aufgetragene weiße Tünche wird entfernt. Der Dom erhält das ungefähr heutige Erscheinungsbild. Die etwas lieblose Sanierung der Fenster ein paar Jahre zuvor wird wieder ausgebügelt. Der Christuszyklus wird ergänzt. Die hierfür erforderlichen Gelder wurden durch Spenden finanziert. Die Spender wurden mit ihrem Wappen am Fenster der Annenkapelle verewigt.
Der Lettner erhielt sein heutiges sehr cleanes Aussehen. Der ursprünglich auf der originalen Farbe aufgetragene Ölanstrich wurde beseitigt. Leider hat man dabei auch die Reste des ursprünglichen Anstriches entfernt.
Im Kreuzgang schlug man den ursprünglichen Putz ab und damit leider auch die mittelalterlichen Wandmalereien.
Nach der Auflösung der Garnison wird 1904 im Obergeschoss des Westflügels der Klausur das Prignitzmuseum eingerichtet.
Im Erdgeschoss erhält die St. Norbert-Kapelle ihren Platz.
Nachdem 1893 ein Blitz in den Westturm eingeschlagen war, musste auch hier saniert werden. Und so kam man auf die Idee den Turm mit mehreren Spitztürmen zu versehen. Dies scheiterte jedoch an der mangelnden Tragfähigkeit der Fundamente. Man fand einen Kompromiss, stockte den Turm durch ein weiteres Glockengeschoss auf und setzte noch einen Dachreiter oben drauf.
In die Westwand des Turmes wurde dann noch ein neues Tor im neoromanischen Stil eingebaut.
Kurz danach brach der 1. Weltkrieg aus. Fünf Glocken und ein Teil der Kronleuchter wurden eingeschmolzen. Die im Turm als einzige verbliebene Glocke stammte aus dem 15. Jahrhundert. Als knappe zehn Jahre später vier neue Glocken in den Turm kamen, wusste man noch nicht, dass es bald wieder notwendig wurde nun alle Glocken einzuschmelzen. Nur dieses Mal war man noch gründlicher. Neben den verbliebenen Kron- und Wandleuchtern wurden auch die Orgelpfeifen zu Kanonen.
Glücklicherweise überstand der Dom den 2. Weltkrieg ohne größere Beschädigungen. Die Schäden am Dach und an den Fenstern wurden zur 1000-Jahr-Feier 1948 beseitigt. Zu diesem Anlass wurden auch neue Stahlglocken gegossen.
Neue Zeiten brachten auch immer neue Eigentümer. Dieses Mal war es das Land Brandenburg bis der Dom 1958 Volkseigentum wurde. Nach der Wende geht der Dom in das Eigentum der Domstiftung Sachsen-Anhalt über.
Es beginnen wieder Sanierungsarbeiten an den Fenstern, dem Ostflügel und dem Dach. Und so wird es wohl auch immer weiter gehen.
Noch 2017 sah der Dom aus, als hätte Christo gerade mit seiner Arbeit begonnen. So ein Gebäude ist immer eine Baustelle, sowohl im restauratorischen als auch im religiösen Sinn. Nachdem sich die beiden evangelischen Gemeinden der Stadt und des Domes vereinigt haben, nutzen nun die vereinigte evangelische und die katholische Kirche den Dom gemeinsam. Besser kann die Zukunft nicht beginnen.