Wann beginnt eigentlich die Geschichte einer Stadt? Mit den Menschen, die als erstes das Land für geeignet hielten um sich niederzulassen? Mit der Besiedlung der Menschen, die eine erste Kirche bauen? In Jerichow liegt zeitlich gesehen beides im Dunkel der Geschichte.

Vielleicht sah es so ähnlich aus, als die Slawen diese Gegend erkundeten. Lockerer Baumbewuchs, sicherlich kein frisch gemähter Rasen und die Elbe floss in unmittelbarer Nähe im Flussbett der Alten Elbe an diesem Hügel, der direkt an die Stadtkirche grenzt, vorbei. Strategisch gesehen der perfekte Ort um eine Burg zu errichten, denn es galt die 983 zurückeroberten Gebiete gegen die Sachsen zu sichern. So entstand auf diesem Hügel eine slawische Burganlage. Diese war meist ein mit Palisaden eingezäuntes rundes Areal mit einem Wachturm und im Inneren Holzhütten für die Mannschaft, Ställe, Küche, Werkstätten, eben das was man so braucht.

Der kleine „Aufstieg“ auf den Burghügel lohnt sich.

Bis zur Klosterkirche reicht der Blick und im 10. Jahrhundert konnte man von hier die direkt am Fuße des Hügels vorbeifließende Elbe sehen.

Es ist nicht bekannt, ob die Slawen zum Zeitpunkt der Übertragung der Gegend auf den Markgrafen von Stade noch den Burghügel bewohnten. In der ersten urkundlichen Erwähnung des Ortes Jerichow am 31. Dezember 1144 wird von einem slawischen Dorf und einem Burgwall berichtet. Die Urkunde beglaubigt übrigens die Schenkung einer Kirche, einer Burg und der umliegenden Dörfer durch die Grafen von Stade an das Prämonstratenserstift Jerichow. Dieses Stift, welches sich zu diesem Zeitpunkt noch in unmittelbarer Nähe des Burghügels und der Kirche befand, wurde bereits Anfang des 11. Jahrhunderts vom Markgraf Rudolf I. von Stade und seiner Frau Richardis gestiftet. Diese beiden hatten einen Sohn Hartwig, der später Domherr zu Magdeburg und Erzbischof zu Bremen wurde und eine Tochter, die den gleichen Namen, wie ihre Mutter trug, Richardis. Diese Tochter wurde in das ebenfalls von Rudolf und Richardis (Mutter) gestiftete Kloster am Disibodenberg gegeben. Hier lernte Richardis, Hildegard von Bingen kennen und wurde ihre engste Vertraute.

Im Verlaufe des 12. Jahrhunderts wurde die ehemals slawische Burg zu einer mittelalterlichen Turmhügelburg ausgebaut. Eine Turmhügelburg ist gekennzeichnet von umgebenden Wällen und einer zumeist aus Holz bestehenden Palisadenmauer. Der Turm stand auf der höchsten Erhebung des Hügels. Schätzungen besagen, dass diese Turmhügelburg ungefähr 70 Meter mal 50 Meter maß. Neben der Burganlage, ungefähr dort, wo sich heute der Supermarkt befindet, entstanden Wohnhäuser und der Amtssitz des Havelberger Erzbischofs. Dieser hatte aufgrund der Zerstörung und Vereinnahmung des Havelberger Domes durch die Slawen seinen offiziellen Sitz, aber nicht sein Amt, verloren.

Wann ist nun die Kirche entstanden. Zum Zeitpunkt der Umverlegung des Klosters 1148-49 hat eine Kirche bereits bestanden. Ob sie Teil des Klosters war, ist ungewiss. Eine dendrochronologische Untersuchung eines Balkens ergab ein Fälldatum im Jahr 1187. Wenn 1148-49 bereits eine Kirche bestand, was auch sehr wahrscheinlich ist, muss es sich nicht um die Kirche handeln, die sich uns heute zeigt. Vielleicht war es eine Feldstein- oder Holzkirche. Eine Kirche aus Holz hält nicht ewig und der Ort wird mit den Jahrzehnten auch angewachsen sein und damit der Platzbedarf in einer Kirche.  Mit dem gefällten Holz aus dem Jahr 1187 wurde dann vielleicht die neue Kirche errichtet. Der Feldsteinsockel auf dem der Backsteinbau errichtet wurde, könnte vielleicht sogar noch ein Relikt der ursprünglichen Kirche sein. Vielleicht wurde der Kirchenbau aber auch mit Grauwacke begonnen und dann in Backstein weitergeführt.

So entstand ein zweiteiliger Kirchenbau mit Langhaus und einen etwas in der Breite verminderten Chor ohne Apsis. Eine recht schlichte Kirche ohne große Raffinesse. Den Turmaufsatz aus Fachwerk hat es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Sollte diese Kirche vielleicht einer in unmittelbarer Nähe geplanten Klosterkirche nicht die Show stehlen? Beim Bau der Kirche wurde ein einheitliches Backsteinformat verwendet. Da es auch keine Baunähte gibt, wurde die Kirche ohne Unterbrechung gleichmäßig hochgezogen.

Das ursprüngliche Portal auf der Nordseite lag direkt neben dem jetzigen Portal.

Das Südportal lag dem Nordportal direkt gegenüber und ist ebenfalls zugemauert. Die Priesterpforte auf der Südseite des Chores ist ebenfalls vermauert und hinter dem Bewuchs versteckt.

Bis zum 16. Jahrhundert gibt es keine verwertbaren Daten zur Kirche und zur Stadt. Bis auf einen Hinweis auf die Zerstörung Jerichows aufgrund eines Elbehochwassers im Jahr 1335. So bleibt wieder viel Raum für Phantasie. Auf der Nordseite des Turmes sieht man große vermauerte Fensteröffnungen. Gleichzeitig kann man Spuren eines Anbaus zwischen den zugemauerten Öffnungen und den romanischen Fenstern erkennen. Am Vorsprung des Langhauses sind die Spuren einer Dachschräge zu sehen. Die Dachschräge ging sogar über die Unterkante der romanischen Fenster hinaus. Stand hier ein Anbau? Am Vorsprung des Langhauses ist ein Rundbogen zu erkennen. Sind das Reste eines Gewölbes? Über der Wölbung erkennt man noch eine gerade, nach oben verlaufende Störung im Mauerwerk, ähnlich die eines Schornsteines. In der ursprünglich rechten Öffnung befindet sich ein weiterer Rundbogen wie der einer Tür. Dies alles muss irgendwann einmal Sinn gemacht haben. Allerdings hatte es keinen Bestand. Aber die Spuren geben Rätsel auf.

Im 16. Jahrhundert wurde der Fachwerkturm auf der Westseite des Langhauses erstmalig erwähnt.

Wenn man die Kirche betritt, begibt man sich auf eine Zeitreise. Der Innenraum ist dunkel und wirkt irgendwie unberührt. Auf meiner bisherigen Reise auf der Straße der Romanik habe ich noch nie so etwas ursprüngliches gesehen. Sicher ist es nicht das Mittelalter in welches man eintaucht, eher das 18. Jahrhundert. Das Kircheninnere wird extrem von den Einbauten dominiert. Dadurch wirkt das Langhaus eng und schmal. Das wenige Licht, was durch die Fenster dringt verstärkt den Eindruck noch.

Die Flachdecken des Chores und des Langhauses sind gleich hoch. Der romanische Chorbogen aus getünchtem von den Jahrhunderten verschmutzten Backsteinen verbindet beide Bauteile der Kirche.

Auf der Chorsüdseite befindet sich das aus 1609 stammende Renaissance-Epitaph des Amtsmannes Melchior von Arnstedt, welcher 1606 verstorben ist und seiner Frau Katharina, die sechs Jahre vor ihrem Mann verstarb. Das vom Magdeburger Bildhauer Sebastian Ertle geschaffene Epitaph besteht aus Marmor und Alabaster.

Die beiden Grabplatten befanden sich ursprünglich vor dem Epitaph im Fußboden. Mit der Errichtung des Mahnmals für die im 1. Weltkrieg verstorbenen Väter und Söhne Jerichows wurden diese mit integriert. Dies ergibt weder einen zeitlichen noch einen sinnhaften Bezug. Aber wer weiß denn schon, was man sich damals dabei dachte.

Im Dreißigjährigen Krieg wurde die bis dahin existierende und als Amtssitz des Erzstiftes Magdeburg genutzte Burg hinter der Kirche auf dem Hügel zerstört.

Im Jahr 1685 siedelte sich eine Reformierte Gemeinde an. Da die Reformierte Kirche die Bibel in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellt, nimmt das Bilderverbot eine zentrale Stelle ein. Aus diesem Grund finden sich in der Kirche keine Bilder von Heiligen, nicht einmal von Jesus. Auf den im Jahr 1776 eingebauten Emporen befinden sich Bibelsprüche. Diese sind meist berufsbezogen, was vielleicht auf eine Sitzordnung im Gestühl oder auf der Empore schließen lässt.

Der Altartisch und die Kanzel bestehen aus Tannenholz und gehen ebenfalls auf die Reformierte Gemeinde zurück. Der ursprünglich romanische Altar wurde entfernt. Die Altarplatte wurde in den Chorboden eingelassen.

Am Kronleuchter im Chor befindet sich ein aus Kristall bestehender Stern, auf welchen die Initialen F.R. eingelassen sind. Dies steht für „Fridericus Rex“ und bezeichnet den preußischen König Friedrich II. auch als „Alter Fritz“ bekannt. Der Stern ist dem „Schwarze-Adler-Orden“ nachempfunden, den Friedrich, Hans von Katte verliehen hat. Hans von Katte war der Vater von Friedrichs Jugendfreund Hans Heinrich von Katte, der auf Geheiß des Vaters von Friedrich hingerichtet wurde. Die Geschichte von Friedrich und Hans Heinrich von Katte kann man im Bericht zur Dorfkirche in Wust nachlesen.

Im 18. Jahrhundert verändert sich die Kirche. Die Emporen werden eingebaut. Die Kanzel entsteht. Der Chor erhält ebenfalls eine Empore auf welcher die Orgel ihren Platz findet.

Das mit jeweils einer Tür pro Sitzreihe versehene Gestühl macht die Einbauten sehr massiv und trägt am ursprünglichen Charakter des Innenraumes einen großen Anteil.

In der gleichen Zeit entsteht in der Ostwand ein Portal, so dass man die Kirche über den Chor betritt. In der Reformierten Kirche kommt dem Chor mit Altar eher eine untergeordnete Rolle zu. Im Mittelpunkt steht hier die Kanzel. So war es sicher praktisch einen Eingang direkt von der Straße aus zu haben.

Im Jahr 1779 wird an der Chorsüdseite ein Fachwerkbau angebaut. Der Zugang zu diesem Anbau erfolgte über die Priesterpforte, deren zugemauerte Umrisse heute vom Bewuchs verdeckt sind.

Anfang des 19. Jahrhunderts werden dann die letzten Reste der ehemaligen Burg abgetragen. Einige Jahrzehnte später entsteht auf dem Burghügel eine Obstplantage und noch etwas später eine Gartenanlage.

Der im Jahr 1833 im Stil einer Apsis errichtete Anbau auf der Westseite der Kirche ersetzt einen bereits in den vorherigen Jahrhunderten vorhandenen Bau, dessen schräg verlaufende Umrisse auf dem Westgiebel über den Dachschrägen des jetzigen Anbaus noch gut zu erkennen sind. Zunächst verwirrt die westliche Apsis etwas und man kommt schnell zu der Annahme, dass der Standort im Westen einem Platzproblem auf der Ostseite geschuldet ist. Nach der Fertigstellung des Anbaus wurde der Fachwerkanbau auf der Südseite des Chores abgerissen und in den neuen Anbau auf der Westseite verlegt.

Ich hatte die Gelegenheit und konnte den Anbau betreten. Hinter der Fassade versteckt sich der umlaufende, aus romanischer Zeit stammende Rundbogenfries mit dem darüber liegenden Deutschen Band, welcher in der oberen Etage einmal ganz aus der Nähe betrachtet werden kann. Schön zu erkennen sind die drei Formsteine und die Sockel, aus welchem der Fries besteht. Zwischen den Bögen wurde jeweils ein Zwickelstein eingesetzt um der Backsteinlage zwischen den Rundbögen und dem Deutschen Band einen besseren Halt zu geben.

Als im Jahr 1881 eine Besichtigung von Vertretern des Ministeriums für kirchliche- und Schulangelegenheiten zu dem Schluss kamen, dass der Chor einen unangemessenen Eingangscharakter trägt, wurde das Ostportal geschlossen, die Orgel auf die Westempore und das Epitaph der von Arnstedts in den Chor verlegt.

Bis auf eine Restaurierung des Fachwerkturmes im Jahr 1991 sind keine größeren Instandsetzungsarbeiten verzeichnet. So zeigt sich die Kirche wie bereits vor 150 Jahren, als Männer noch mit Stock und Hut und Frauen mit langen Röcken und Häubchen die Kirche betraten. Wo findet man heute noch derart ursprüngliche Orte. Fast alles wird saniert, erhält seine ursprüngliche Form, seine wahrscheinlichen Farben und wird dadurch manchmal historischer als es je war. Und so sind es meist die unscheinbar anmutenden Orte, die das Wahre zeigen. Man muss nur den Mut haben diese Orte zu betreten und sich darauf einzulassen. Dann zeigt sich für einen Moment die Geschichte so, als wäre sie nie vergangen.